Gotthardunfall - eine Analyse
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Alpenverkehrspolitik nach dem Gotthardunfall: Effektive politische Taten oder
wieder nur Versprechen ?
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Am 24. Oktober 2001 hat sich im Gotthardtunnel, einem Tunnel mit
vergleichsweise vorbildlichem Sicherheitssystem, ein Unfall ereignet, der 11
Menschenleben forderte. Dieser Unfall, der dritte in einer Serie tragischer
Brandkatastrophen in Alpentunnels seit 1999, ist für die Organisationen aus den
Alpen, Vogesen und Pyrenäen Anlass, radikale Änderungen in der europäischen
Verkehrspolitik, und insbesondere in der Politik für sensible Regionen
einzufordern. Dieses Papier fasst ihre Analyse der Ereignisse kurz zusammen und
präsentiert ihre wichtigsten Forderungen.
Die Ursache konkret:
Ein alkoholisierter LKW-Fahrer, der von einer belgischen Transportfirma ohne
Betriebsgenehmigung (Gül Trans) angestellt war und der in Belgien zwar eine
Aufenthalts-, aber keine Arbeitsgenehmigung hatte.
Der Hintergrund:
Quellen u.a.: Mark Schenker "Blühender Schwarzmarkt für Billigchauffeure",
1.11.01, Tagesanzeiger, Thomas Bolli "Täglich ein übermüdeter Chauffeur,
31.10.01, Tagesanzeiger, Helmut Stalder "Nachhelfen an der Tachoscheibe",
2.11.01, Tagesanzeiger
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ein blühender (Schwarz-)Markt
von EU-Transportunternehmen mit fiktiven Tochterunternehmen in Ostländern
beschäftigt Lastwagenchauffeure aus Billiglohnländern zu Bedingungen, die nicht
nur aus sozialer Sicht für die FahrerInnen völlig inakzeptabel sind, sondern
auch für VerkehrsteilnehmerInnen und Bevölkerung an Transitstrecken in ganz
Europa inakzeptable Risiken schaffen.
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Korrekt arbeitenden Frachtunternehmen
auf Strasse und Schiene sind unter derartigen Bedingungen
immer weniger konkurrenzfähig
. Löhne machen etwa die Hälfte der Kosten eines Frachtunternehmens aus.
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Verstösse gegen ohnehin ungenügenden Arbeitszeitvorschriften
und damit Übermüdung sind an der Tagesordnung. Zwei Beispiele: Die Basler
Polizei hielt Ende Oktober bei einer Kontrolle zwei deutsche Chauffeure an, die
während 28 beziehungsweise 22 Stunden ununterbrochen am Steuer sassen. Im
Kanton Uri wurden in den vergangenen 10 Monaten bei Kontrollen 267 Verstösse
gegen die Ruhezeitenverordnung festgestellt.
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Die Chauffeure sind, solange nicht viel strenger kontrolliert wird, de facto
fast zu Arbeitszeitverstössen gezwungen
, denn sie sind rasch ersetzbar.
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Gemäss David Piras, Generalsekretär des Berufsfahrer-Verbands Les Routiers
Suisse, sind die
schwarzen Schafe
unter den Firmen im internationalen Verkehr zahlreicher als man denkt: 30
Prozent der Firmen seien seriös, 30 Prozent nähmen die Vorschriften nicht
ernst.
40 Prozent überliessen es den Fahrern, wie sie den Transport schaffen.
Die Reaktion der Schweizer Bahnen:
Die
SBB
kündigt an, durch einen kurzfristigen
Kapazitätsausbau
die Hälfte des Schwerverkehrs der Gotthardstrecke aufnehmen zu können. Dieses
Angebot kann allerdings nur dann aufrechterhalten werden, wenn auf
internationaler Ebene politische Massnahmen getroffen werden, die die
Konkurrenzfähigkeit der Bahn sicherstellen.
Die Reaktionen der anderen Alpenländer
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Alle Länder, die EU eingeschlossen, beschwören,
langfristig
auf die Bahn setzen zu wollen.
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In Frankreich
kommt man erst gar nicht auf die Idee, kurzfristig zusätzliche Züge auf der
Ausweichroute Mont Cenis anzubieten. Im Gegenteil, im Budget der nationalen
Investitionen für den Kombiverkehr 2002 ist nach wie vor ein
Investitionsrückgang von 60% vorgesehen.
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Auf österreichischer Seite
, wo die Brennerbahnlinie trotz vergleichbarer technischer Charakteristika nur
etwa die Hälfte der Gütermenge des Gotthards transportiert, beeilte man sich zu
versichern, dass man im Fall zusätzlicher LKW-Nachfrage die Kapazität im
Kombiverkehr erhöhen werde – obwohl ausreichend teuer subventionierte Kapazität
besteht, die ungenutzt bleibt, weil der Straßentransport immer noch billiger
ist. Zusätzliche Züge der RoLa auf der Brennerachse hätten zudem das Problem,
daß die damit transportierten LKW in Italien ab/bis Brenner auf der Straße
fahren müssen, da die Italienischen Staatsbahnen ihren vertraglichen
Verpflichtungen nicht nachkommen.
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Der
französische und italienische
Verkehrsminister versichern, "
langfristig
" auf die
Schiene
setzen zu wollen und kündigen als "
Sofortmassname
" die Wiedereröffnung des Montblanc-
Strassen
tunnels für LKW zu Beginn des Jahres 2001 an. Der italienische Verkehrsminister
forderte im Einklang mit der EU-Kommissarin "Flexibilität" und Entgegenkommen –
sprich, die Lockerung der Regeln für Straßentransit - von Österreich.
Flucht nach vorne statt Lösung des Problems?
Der italienische Verkehrsminister Lunardi bringt seinen Zugang zum Thema
Alpenverkehrspolitk am Beispiel Mont Blanc und Frejus Tunnel folgendermassen
auf den Punkt: "
Sie müssen verdoppelt werden.
Es handelt sich um Strukturen, die vor 50 Jahren geplant wurden. Es wird nicht
leicht sein, weil sich Personen, die eine unrichtige und unsinnige
Umweltpolitik betreiben, gegen dieses Projekt wehren. Wir teilen die Ansicht
der EU, der zufolge die Bahnverbindungen gestärkt werden müssen. Vor 15 bzw. 20
Jahren werden wir dies jedoch nicht schaffen, daher müssen wir den
Autobahnverbindungen größere Sicherheit garantieren".
Pikantes Detail:
Keine der drei Brandkatastrophen in Alpentunnels hätte durch eine 2.
Tunnelröhre verhindert werden können
24.3.1999
: Ein weggeworfener Zigarettenstummel führt zur Entzündung eines LKW im
Montblanc Tunnel.
Das dadurch ausgelöste Feuer tötet 39 Menschen. Eine 2. Tunnelröhre hätte
nichts genutzt.
12.5.1999
: Ein von einem LKW ausgelöster Auffahrunfall führt im
Tauerntunnel
zum Tod von 12 Menschen. Auch dieser Unfall hätte durch einen
Ein-Richtungs-Tunnel nicht verhindert werden können.
24.10.2001
: Ein alkoholisierter Fahrer gerät im
Gotthardtunnel
mit seinem LKW auf die Gegenfahrbahn und kollidiert mit einem
entgegenkommenden LKW. Derselbe LKW hätte auch in einem Einrichtungstunnel
einen Unfall auslösen können, so z.B. durch Kollision mit einem überholenden
Fahrzeug. Auch hier hätte also eine 2. Tunnelröhre einen Unfall nicht
verhindern können.
Auch vergleichende Studien zeigen: eine zweite Tunnelröhre bringt nicht mehr
Sicherheit:
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Das österreichische Kuratorium für Verkehrssicherheit stellt fest, "dass
Tunnelbereiche mit 2 Röhren und Richtungsverkehr ein geringfügig
höheres
Unfallgeschehen aufweisen als Tunnels mit einer Röhre und Gegenverkehr. ... Es
liegt die Vermutung nahe, dass in einröhrigen Tunnels mit Gegenverkehr
allgemein mit erhöhter Aufmerksamkeit gefahren wird, während in Tunnels mit
mehr als einem Fahrstreifen je Richtung eher so gefahren wird, als ob auf der
Autobahn keine Behinderungen auftreten können."
Kuratorium für Verkehrssicherheit / Institut für Verkehrstechnik und
Unfallstatistik: Untersuchung Tauerntunnel. Bericht im Auftrag des
Bundesministeriums für Wissenschaft und Verkehr, Wien, im August 1999
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Nach dem gleichen Bericht liegen die Unfallkostenraten (Unfallkosten pro
Fahrzeugkilometer) in zweiröhrigen Tunnels ca. 30% höher als bei einröhrigen
Tunnels: "Diese Werte kommen dadurch zustande, dass bei 2-röhrigen Bauten mehr
Beteiligte je Unfall und schwerere Unfallfolgen höhere Unfallkosten bewirken,
..."
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Eine Auswertung verschiedener Studien durch die Strassenbauverwaltung
Baden-Württemberg hat ergeben: Die Unfallraten in Tunnels schwanken –
unabhängig von der Anzahl der Röhren – um den Faktor 10. Mit andern Worten:
Nicht die Zahl der Röhren, sondern andere Faktoren bestimmen die Gefährlichkeit
eines Tunnels.
Sichere Strassen. Regeln und Erkenntnisse für Strassenbau und Verkehrstechnik.
Schriftenreihe der Strassenbauverwaltung Baden-Württemberg. Heft 2. 1989
Die Verkehrssicherheit hängt also nicht von der Zahl der Röhren ab. Dafür sind
andere Faktoren bestimmend.
Handeln und wahre Ursachen bekämpfen –
wo ein (politischer) Wille da ein Weg
International
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Internationales Bürgerbeteiligungsverfahren
über die Verkehrspolitik der Alpen, Pyrenäen und Vogesen nach dem Beispiel des
in Frankreich zu diesem Thema vorgesehenen von einer nationalen Kommission
geleiteten Verfahrens (débat national public) und Verabschiedung eines strikten
und nach oben harmonisierten europäischen Maßnahmenpaketes für sensible
Regionen.
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Keine
Neueröffnung oder Wiedereröffnung eines Tunnels für den LKW-Verkehr
vor Abschluß des Bürgerbeteiligungsverfahrens und vor Verabschiedung
drastischer Sicherheitsmaßnahmen, die eine Zulassung von regionalem LKW-Verkehr
erlauben. Vielmehr:
Plan zur schrittweisen Reduzierung des LKW-Verkehrs
in allen Gebirgstälern mit dem Ziel seines Abbaus mit Ausnahme des regionalen
Güterverkehrs.
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Verbesserung der Arbeitsbedingungen
und insbesondere die Arbeitszeiten der LKW-FahrerInnen durch die sofortige,
drastische Verbesserung der Gesetzgebung, die konsequente Umsetzung und
Kontrolle bestehender Vorschriften (u.a. mit elektronischem Fahrtenschreiber)
sowie Entwicklung und Umsetzung eines Plans zur dauerhaften Bekämpfung des
Sozialdumping im Verkehrssektor.
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EU-Institutionen müssen die
fortgesetzten Versuche, bestehende Regelungen auszuhöhlen
oder mit Binnenmarkt-, Wettbewerbs- und ähnlichen Scheinargumenten zu
bekämpfen,
unverzüglich beenden.
Frankreich
Keine Wiedereröffnung des Mont Blanc Tunnels für LKW als Symbol für einen
Neuanfang einer europäischen Verkehrspolitik.
Stattdessen:
sofortige Umsetzung der notwendigen Schritte für die
Nutzung der bestehenden
Bahnkapazitäten
auf den Bahnlinien Mont Cenis, Tonkin-Simplon und
Dijon-Vallorbe-Simplon und sofortige Einleitung eines öffentlichen
Bürgerbeteiligungsverfahrens (débat national public).
Österreich
Strikte Einhaltung des Transitvertrags und des Ökopunkteregimes.
Zusatzverkehr aufgrund der Gotthardtunnelsperre ist durch Nutzung des
bestehenden und erforderlichenfalls zusätzlichen Bahnangebots abzufangen.
Sofortige Rücknahme
der ab 1.12. gültigen neuen
Verordnung über "Gefahrguttransporte in Autobahntunneln"
, die die bestehenden Sicherheitsvorschriften massiv reduziert.
Schweiz
volle und langfristige Unterstützung des Massnahmenpakets der SBB.
Effektive
Begrenzung der LKW-Zahlen auf den Ausweichrouten und insbesondere der San
Bernardino Route durch ein Anhängerverbot für Lastwagen
Keine Wiedereröffnung des Gotthardtunnels für Lastwagen.
Italien
Volles Bekenntnis des bei der Alpenkonvention derzeit vorsitzführenden
Staates zum (von Italien längst unterzeichneten!)
Verkehrsprotokoll und zur
Rahmenkonvention der Alpenkonvention
, d.h.
keine 2. Tunnelröhre für Montblanc-
und Frejustunnel
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